Ladakh

Im Nu sind die zwei Tage vergangen. Wir packen unsere Sachen, decken uns mit Lebensmitteln und Benzin ein und fahren los. In Sonamarg müssen wir noch eine Weile warten, bis der Gegenverkehr unten im Tal angekommen ist. Wir haben Glück: Heute ist der erste Tag, an dem Privatautos über den Pass fahren dürfen. Die Strecke nach Ladakh ist während höchstens drei Monaten im Jahr befahrbar. Bereits im September fällt der erste Schnee, und das abgelegene Gebiet ist erneut nur über den Luftweg erreichbar. Aber auch diese Verbindung ist unsicher. Bei schlechtem Wetter ist es unmöglich, die 7000 Meter hohen Gebirgszüge zu überfliegen.
Am Mittag können wir losfahren. Wir sind die vordersten zwei Fahrzeuge, die den Zoji‑La hochfahren. Der Pass ist „nur“ 3500 m hoch und somit der tiefste auf der Strecke nach Leh. Da aber auf dem Gebiet von Ladakh beinahe keine Niederschläge erfolgen, sind die höheren Pässe bereits schneefrei, während der Zoji‑La noch meterhoch verschneit ist. Beidseits der geräumten Piste türmen sich immer noch drei Meter hohe Schneewände. Wenn wir Jean‑Louis vor uns haben, werden wir vom VW‑Bus in eine schwarze Rauchwolke eingehüllt. Unsere Geschwindigkeiten sind total unterschiedlich. Unser Landy fährt in gleichbleibendem Tempo im zweiten Gang den Berg hoch. Beim Bus jedoch kommt es ganz darauf an, ob der Turbo einsetzt oder nicht, und entsprechend unregelmässig fährt er. Weil man kaum mal überholen kann, bremsen wir uns gegenseitig immer wieder aus, aber wir nehmen es gelassen und freuen uns, dass wir Begleitung haben.

Die Nacht verbringen wir im nassen und kalten Kargil in einem Hotel. Hier befinden wir uns geographisch eigentlich eher in Pakistan als in Indien, auch die roten Henna‑Bärte und die Kleidung der Männer (Frauen hat es offenbar keine!) deuten darauf hin. Weil noch andere Touristen nach Hemis wollen, sind die Hotelzimmer bald einmal gefüllt, und die später eintreffenden Reisenden müssen sich mit einem Platz im Korridor zufrieden geben.

Auf dem Fatu‑La Pass befinden wir uns auf 4100 Metern Höhe. Von hier aus haben wir einen tollen Blick nach Ladakh, das auch Kleintibet genannt wird. Die Landschaft ist karg und unfruchtbar, nur wo ein Stück Land bewässert wird, wächst etwas. Auf den folgenden paar Kilometern schlängelt sich die Strasse 1000 Meter in die Tiefe. Nun sind wir am tiefsten Punkt Ladakhs angekommen. Das Tal befindet sich auf durchschnittlich 3500 m über Meer. Die meisten Touristen, die von Delhi direkt hierher fliegen, müssen sich zuerst an die Höhe gewöhnen und sind während den ersten paar Tagen etwas kurzatmig.

Was uns sofort auffällt, sind die Gebetsfahnen, die bei jeder Steinansammlung oder den wenigen Häusern im Wind wehen. Die schlitzäugigen Ladakhis sind Buddhisten. Schon bald sehen wir das erste Kloster. Weil jeglicher Reichtum der Bevölkerung in die Kloster fliesst, sind das jeweils mächtige Bauten, während die normale Bevölkerung in einfachen kleinen Steinhäuschen wohnt. Nachdem wir eines dieser Kloster besucht haben, schlagen wir abseits der Strasse unsere Zelte auf. Im Gegensatz zum südlichen Teil Indiens sind wir hier fünf Minuten später nicht von neugierigen Leuten umgeben. Wir geniessen eine absolut stille und eisig kalte Nacht.

Wir fahren nun dem Indus Fluss entlang. Die Provinzhauptstadt Leh umfahren wir, weil es Zeit ist, dass wir nach Hemis kommen. Das kleine Dorf ist festlich geschmückt. Auf einem Platz neben dem Kloster stellen wir unsere Autos hin. Es soll sich bei diesem Platz um einen Campingplatz handeln, aber Einrichtungen hat es gar keine. Nach langem Suchen entdecken wir die Toilette: In einem halb zerfallenen Gebäude nähert man sich in absoluter Dunkelheit einem Abhang. Dort erledigt man seine Geschäfte. Dabei braucht man jemanden, der Wache steht, und man muss aufpassen, wohin man tritt, denn nicht jeder hat sich bis zum Abhang gewagt.
Kurz nach uns erscheint die indische Polizei und schlägt ihre Zelte gleich neben uns auf. Offenbar scheint es eine ziemlich grosse Sache zu geben. Wir lernen Park kennen. Er kommt aus Südkorea und ist mit dem Fahrrad im Himalaya unterwegs. Wir vergleichen unsere Reisepläne und stellen fest, dass wir in etwa die gleichen Strecken fahren werden, nur wir natürlich etwas schneller, auch wenn er behauptet, er sei manchmal ebenso schnell wie ein Linienbus. Wir tauschen noch unsere Adressen aus, für den Fall, dass er es mal mit dem Velo bis nach Europa schafft.

Am nächsten Morgen holt uns Disco‑Musik aus dem Bett. Da wir eh früh aufstehen wollten, ist uns dieser Weckdienst nur recht. Wir packen den Fotoapparat und viele Filme ein und gehen ins Gompa. Hier sind wir erstaunt, wie viele Leute es bereits hat. Auf dem Flachdach finden wir ein Plätzchen. Von hier aus haben wir einen guten Überblick in den Klosterhof, wo alles voller Leute ist. Das meiste sind farbenfroh gekleidete Einheimische, aber es hat auch viele Touristen. Sogar eine japanische Reisegruppe wurde für das Fest eingeflogen. Über das Verhalten gewisser Touristen sind wir ziemlich schockiert. Manche benehmen sich, als würde das Fest ihretwegen stattfinden.

Für das Fest wurde die Tongkha (eine Art Wandteppich) an die Klosterwand gehängt. Nach den ersten Trompetenstössen erscheinen verkleidete Mönche. Mit ihren furchterregenden Masken vertreiben sie tanzend die bösen Geister. Dann folgt eine Prozession: Zuerst wird feierlich ein Bild des Dalai Lamas in den Hof getragen, dann erscheint der Rimpoche, der Abt des Klosters. Dieser Abt reiste in den fünfziger Jahren zum Dalai Lama nach Lhasa. Darauf wurde das Tibet von den Chinesen annektiert, und der Abt kehrte nie mehr nach Hemis zurück. Niemand wusste, was mit dem Abt geschehen war. Deshalb konnte er auch nicht durch einen neuen ersetzt werden. So findet das Festival seit über 40 Jahren ohne ihn statt. An seiner Stelle wird eine überlebensgrosse Figur in den Hof geleitet, die dann unter einem Sonnenschirm sitzend das Fest mitverfolgt. Wir verstehen die ganzen Abläufe der Zeremonie nicht genau, aber das hindert uns nicht daran, uns an den schönen Gewändern der Mönche oder den einheimischen Festbesuchern zu erfreuen. Am Abend sind wir total erschöpft und lassen uns durch die laute Musik, die bis spät in die Nacht lärmt nicht stören.

Um fünf Uhr morgens ertönen erneut Trompetenstösse, eine Stunde später laufen die Discos wieder auf Hochtouren. Wir stehen auf und gehen ins Kloster, dort aber hat es praktisch keine Leute mehr, so dass wir auf den Campingplatz zurückkehren. Gegen Mittag beginnt eine Schlägerei zwischen einer Gruppe Tibetaner und einheimischen Ladakhis. Worum es dabei geht, wissen wir nicht. Die Polizei nimmt ein paar Leute fest und fährt sie zusammen mit einigen Verletzten nach Leh. Eine Viertelstunde später flammt der Streit erneut auf, diesmal bedrohlicher und ganz in unserer Nähe. Wir parkieren unsere Autos um. Im letzten Polizeilastwagen werden weitere Verletzte und Verhaftete nach Leh transportiert.

Am nächsten Morgen ist alles ruhig. Die Polizei hat ihre Zelte abgebrochen, die Discos sind verschwunden, die Touristen und die Randalierer sind abgereist. Auch wir packen unsere Sachen zusammen und fahren Richtung Leh. Unterwegs wollen wir im Tikse Kloster Halt machen und dieses grosse, hoch auf den Felsen gelegene Bauwerk besichtigen. Aber auf dem Parkplatz des Klosters kehren wir wieder um. Dort steht ein Mietwagen, an dem sich ein paar Mönche zu schaffen machen. Sie lassen Luft aus den Reifen und reden irgend etwas von bösen Moslems. Wir verzichten auf einen Besuch und machen uns aus dem Staub. Unterwegs nach Leh kommt uns ein Polizeiauto entgegen. Wir halten an und erzählen ihnen, was wir gesehen haben. Sie sind offenbar auf dem Weg nach Tikse, weil es dort zu einer Auseinandersetzung zwischen Ladakhi und Moslems gekommen sein soll. Die Touristen mit dem Mietambassador sind einfach in einem dummen Moment dazwischen gekommen. Später erfahren wir, dass die fünf Polizisten von den aufgebrachten Mönchen entwaffnet und zusammen geschlagen wurden. Der Mietwagen wurde total zerstört, und die Touristen flüchteten zu Fuss. Wir verstehen die Sache nicht, fragen uns aber, wie buddhistische Mönche eine solche Tat begehen können.

In Leh verbringen wir noch ein paar Tage mit unseren französischen Freunden, bevor wir uns von ihnen verabschieden. Die Piste nach Manali ist immer noch nicht geöffnet, sie ist frühestens am 1. Juli befahrbar, und heute ist erst der 25. Juni. Die Franzosen wollen die Strecke unbedingt fahren, aber wir verzichten auf eine solch lange Wartezeit und fahren dorthin, wo wir hergekommen sind, über die drei Pässe nach Kashmir. In Srinagar wimmelt es nur so von Polizei und Militär. Auf dem Hausboot der Familie Pala angekommen, erfahren wir, was in der Zwischenzeit passiert ist. Letzte Nacht wurden sechs Israeli von Freiheitskämpfern entführt. Die Kashmiris haben ihnen vorgeworfen, im Auftrag des indischen Militärs spioniert zu haben. Während des Morgengebetes konnten die Israeli ihre Bewacher überwältigen. Dabei gab es drei Tote: ein Israeli und zwei Kashmiri. Jetzt sind alle Touristen aus Srinagar weg, und auch wir bleiben nicht wie beabsichtigt ein paar Tage, sondern fahren am nächsten Morgen weiter.

Die Bilder zur Reise 1990-1991 findest du hier: Flickr

Schreibe einen Kommentar

Scroll to top