Rajastan

29. Oktober 1995

Wie gewohnt, sind wir zu früh an der Grenze und warten bei einem Cay (Tee) bis 10 Uhr. Die Ausreise dauert eine Stunde und die Einreise nach Indien nur wenig mehr, und das, obwohl wir wie immer einen unglaublichen Papierkram erledigen müssen.
In Amritsar haben sie für uns ein Fest vorbereitet. Ein Sikh Guru feiert seinen Geburtstag. Dadurch sind die Strassen voller festlich gekleideter Leute.
Am Nachmittag fahren wir während einer Stunde einer Polizeieskorte nach, die irgend einen VIP durch den Verkehr lotst. Wenn mal wieder ein Bus nicht schnell genug an den Rand fährt, wird ihm mit einem Schlagstock der Rückspiegel eingeschlagen. Mit 90 km/h durch indische Dörfer zu fahren, haben wir uns bisher nicht vorstellen können. Mit der Zeit wird es uns aber zu mühsam, den Anschluss an die Eskorte nicht zu verlieren.
Da diese Gegend stark bevölkert und bewirtschaftet ist (welche Gegend in Indien ist das nicht?), haben wir Mühe, einen Übernachtungsplatz zu finden. Nachdem Albi eine gut halbstündige Dorf- und Feldbesichtigungsrundreise gemacht hat, und wir wieder auf der Hauptstrasse sind, finden wir doch noch ein ruhiges Plätzchen.

30. Oktober 1995

Frühmorgens schauen wir zum Fenster raus und sehen die Sonne über den dunstigen Feldern aufgehen. Back to India – wir freuen uns!
In New Delhi schlagen wir unsere Zelte im Tourist Camp auf. Wir besuchen das American Express Office, wo wir einen Brief von Simone, Albi’s Schwester, vorfinden. Sie fliegt Ende November nach New Delhi und will dann zuerst Rajastan mit dem Rucksack bereisen.

31. Oktober 1995

Weil die Strasse sehr lärmig ist, haben wir nur wenig geschlafen. Wir beschliessen, sofort die Versicherung zu erledigen und dann weiterzuziehen. Auf der New India Insurance, gleich gegenüber vom Camp schliessen wir eine Haftpflichtversicherung für ein halbes Jahr zum Preis von Rs 240 ab. Der Agent verspricht uns, die Police bis spätestens um halb eins ins Tourist Camp zu bringen.
Um fünf nach halb eins erscheint er wirklich mit dem Papier, und wir machen uns auf den Weg. Da wir gerade in der Nähe vorbeifahren, wollen wir noch einen Blick auf den VW Dealer, den es ja laut den Jerseys hier geben müsste, werfen. Und wirklich, es gibt ihn. Um die Werkstatt herum stehen sogar ein paar Volkswagen – eine Seltenheit in Indien, wo die meisten Fahrzeuge made in India sind, mit aufgekauften uralten Lizenzen von Fiat, Sunbeam, Vauxhall, Rover, Mercedes. Daraus werden dann Padmini, Ambassador, Hindustan, Standard und Tata.
Der Chef erkennt unseren Floh sogleich als LT. Ob wir eine Windschutzscheibe bräuchten, er habe eine an Lager. Trotz den paar Steinschlägen, die wir in Rumänien erwischt haben, können wir darauf verzichten. Lieber hätten wir ein paar Öl- und Dieselfilter. Die kann er uns besorgen, die Dieselfilter habe er, die Ölfilter müsse er beim Volvohändler besorgen (es ist derselbe Motor, der im Volvo 760 eingebaut ist).
Um die Wartezeit zu überbrücken, besuchen wir den schönen Buddha Garden, wo Prinz dauernd den Eichhörnchen nachspringt und dann bellend am Baum darauf wartet, dass sie wieder herunterkommen.
Um 17.00 Uhr haben wir die Filter und machen uns auf den Weg nach Jaipur.

1. November 1995

In Jaipur, der rosafarbenen Stadt, verfahren wir uns, weil wir es geschafft haben, irgendwie von der N8 abzukommen und zusammen mit den Lastwagen eine Stadtumfahrung zu machen. Dadurch, dass die Hinweisschilder mit Wahlplakaten überklebt sind, können wir uns nicht mehr orientieren. An einer Kreuzung versuchen wir einen Parlamentarierkopf vom Wegweiser zu reissen. Wir scheitern jedoch an diesem Vorhaben – die indische Wahlpropaganda braucht zuviel Leim. Die umherstehenden Leute weisen uns alle in eine unterschiedliche Richtung, schliesslich darf niemand zugeben, dass er etwas nicht weiss. Schlussendlich stellt Albi den Camper mitten auf die Kreuzung und bringt so einen Überlandbus zum Stehen, damit wir den Chauffeur nach der richtigen Strasse nach Ajmer fragen können.
Am späten Nachmittag treffen wir in Pushkar ein. Hier findet in den nächsten Tagen der Kamelmarkt statt. Vergebens versuchen wir einen Stellplatz zu finden. In den Ort selber, wo man bei einem Hotel am See stehen könnte, darf man nicht mehr fahren. Mit Stahlstangen ist alles abgesperrt. Für heute nacht können wir in einem R.T.D.C. Bungalow schlafen, aber ab morgen sind natürlich alle ausgebucht. Die meisten Leute (ausländische Touristen, indische Touristen und natürlich die Rajastanis) sind bereits eingetroffen und haben das sonst verschlafene Wüstendorf in ein überfülltes und staubiges Chaos verwandelt.

2. November 1995

Nach dem Frühstück trifft ein weiteres Reisefahrzeug ein. Es sind Kerstin, Walter und ihr zweijähriger Sohn Dominik aus Deutschland, die mit einem IFA Lastwagen unterwegs sind. Während wir zusammen überlegen, wo wir uns hinstellten können, kommt ein Inder und fragt, ob er uns irgendwie helfen könne. Nachdem wir ihm unser Problem geschildert haben, fährt er mit uns ins Nachbardorf und zeigt uns, wo wir auf dem Dorfplatz stehen können.
Wir parkieren die Fahrzeuge unter dem einzigen Baum weit und breit. Um uns herum fressen die Ziegen Karton und Plastik aus dem Abfallhaufen, und die kleinen Kinder machen ungeniert ihr grosses Geschäft. Wie sollen sie es auch anders machen als ihre Eltern. Ein unauslöschliches Bild von Indien bekommt man, wenn man frühmorgens durchs Land fährt. Überall winken uns am Rand der Strasse kauernde Leute zu. Die Füsse noch auf dem Teerbelag, Röcke oder Lunghi hochgehoben und ein mit Wasser gefülltes Gefäss (anstatt WC-Papier) neben sich – so zeigen sich die Toilettengewohnheiten der Inder. Aber wir sind froh, überhaupt ein einigermassen ungestörtes Plätzchen gefunden zu haben und beklagen uns nicht über etwas, was in diesem Land völlig normal ist.
Eigentlich handelt es sich bei dem Kamelmarkt um ein heiliges Fest, wo die Rajastanis alle nach Pushkar pilgern. Dabei handeln sie natürlich mit allem, was sie haben: Kamele, Kühe, Pferde, Ziegen, Stoffe und auch Söhne und Töchter. Überall gibt es Stände, die die Leute mit allem, was sie brauchen könnten, versorgen. Die ganze Angelegenheit ist sehr lebhaft und voller Farbe. An den zum Teil riesigen farbigen Turbanen ist zu erkennen, aus welcher Gegend und sogar welchem Ort die Männer kommen.

3. November 1995

Wir verbringen den ganzen Tag auf „unserem“ Dorfplatz. Mit Walter und Kerstin plaudern wir stundenlang übers Reisen und andere weltbewegende Dinge. Der zweijährige Dominik freundet sich inzwischen mit Prinz an.

4. November 1995

Noch vor dem Frühstück wandern wir durch die Lager der Rajastanis. Die ganze Umgebung ist in eine Dunstglocke gehüllt. Die vielen Tiere und die Menschen, die überall ein Kochfeuer entfachen, geben dem Fest ein gespenstisches Bild. Es riecht nach Staub, Rauch, Tiermist, Essen und Schweiss. Die Kamele sind schön geschmückt, und überall werden Tiere verkauft. Die jungen Frauen haben sich wunderschön herausgeputzt und stolzieren, mit Silberschmuck behangen, in ihren farbigen Festtagsröcken umher. Zusammen mit den fröhlichen Leuten wandern wir durch die überfüllten Strassen. Damit man überhaupt noch vorwärts kommt, sind die Strassen in der Mitte durch gespannte Seile unterteilt, so dass man richtungsgetrennt durch den Ort läuft und einen U-Turn machen muss, um auf der anderen Strassenseite in ein Restaurant gehen zu können.
Weil Pushkar eine für Hindus heilige Stadt ist, darf hier kein Fleisch serviert werden. Trotzdem kommen wir voll auf unsere kulinarischen Kosten, speziell die Channa Patthuras haben es uns angetan. Abgesehen von einem singapurischen Roti Canai gibt es kein schmackhafteres Frühstück als diese Kichererbsen, die mit einem frittierten Fladenbrot gegessen werden.

5. November 1995

Am Morgen werden wir wie bereits in den letzten Tagen durch den „Baumschneider“ geweckt. Er steigt auf den Baum (den einzigen in der näheren Umgebung) und schneidet den vorderen Teil der Äste ab. Jetzt, wo es hier in Pushkar so viele hungrige Tiermäuler zu stopfen gibt, wird das Futter knapp. So müssen die Bäume ihre Blätter dazu opfern.
Der alte Mann steigt die Leiter auf unser Wohnmobil hoch und schwingt sich auf den Baum. Von dort lässt er dann all die Äste auf unser Dach herunterfallen. Wir sind darüber natürlich gar nicht erfreut und versuchen, ihn davon abzubringen. Mittlerweile ruft ihm das halbe Dorf zu, er solle aufhören, was ihm nur noch mehr Energie gibt. Erst als er alle erreichbaren Äste „geerntet“ hat, rutscht er den Stamm herunter. Albi versucht ihm klarzumachen, dass er unsere rollende Wohnung damit beschädigt, und die zwei gehen zur Beschwichtigung der Gemüter zusammen einen Tee trinken.
Den Nachmittag verbringen wir wieder im Getümmel der vielen Leute. Der Ort ist absolut vollgestopft mit Rajastanis, Pilger, Touristen und vielen Bettlern. Ab und zu sieht man eine verwahrloste Gestalt mit langen verfilzten Haaren – ein Sadhu. Diese selbsternannten „heiligen“ Männer laufen vielfach nur mit Asche beschmiert splitternackt durch die Menschenmenge. Vorausgesetzt sie laufen überhaupt – wir sehen einen, der sich, Arme an den gestreckten Körper haltend, nur rollend vorwärtsbewegt. Ein anderer läuft nur auf den Händen, und wir fragen uns, ob er auch imstande ist, in dieser Stellung etwas zu trinken.

6. November 1995

Wir verabschieden uns von unseren neuen Freunden aus Deutschland und machen uns auf den Weiterweg. Auf wenig befahrenen Nebenstrassen fahren wir Richtung Jaisalmer. Diese Nacht verbringen wir endlich mal wieder in aller Stille.

7. November 1995

Es hat offenbar vor kurzer Zeit geregnet. Wir sehen viele Wasserlöcher, und auf dem kargen Wüstenboden liegt ein grüner Schimmer.
Am Nachmittag erreichen wir Jaisalmer, die wichtigste Stadt in der Wüste Thar. Sie liegt auf einem kleinen Hügel und ist mit einer imposanten Mauer gegen Angreifer befestigt.
In der Stadt suchen wir wie immer ein Hotel oder Guesthouse, wo wir auf dem Parkplatz stehen können. Die meisten Inder fahren ihr Auto nicht selber, sondern haben einen Chauffeur, der dann vor oder eher hinter dem Hotel im Auto übernachtet. So hat es dort immer Toiletten und manchmal sogar Duschen, die wir dann auch benützen können. Es kommt aber auch vor, dass wir zum Duschen ein leer stehendes Zimmer benützen können, weil die Besitzer stolz sind, unseren Campingcar vor dem Hotel stehen zu haben.
Hier in Jaisalmer finden wir einen Platz im Park des Jawahar Niwas Palace Hotels, das früher einmal das Gästehaus für nichthinduistische Besucher des Maharajas war. Weil diesen Leuten unter anderem auch Fleisch zum Essen serviert wurde, steht das Gebäude ausserhalb der Mauern, wohl um die Stadt nicht zu verunreinigen.

8. November 1995

Bei Sonnenaufgang werden wir geweckt. Draussen steht ein junger Angestellter und sagt: „Breakfast ready, Sir.“ Das Frühstück war zwar von uns nicht bestellt worden, aber wenn es nun schon da ist, stehen wir auf und nehmen den Tisch vom Dach, damit der arme Kellner endlich das schwere Tablett abstellen kann. Nach einer kurzen Morgentoilette setzen wir uns zum Essen hin und wollen gerade zulangen, als der Kellner wieder erscheint: „Sorry Sir, breakfast not for you, other room number, Sir, sorry Sir.“ Und entwendet uns das Essen wieder. Wie jemand die Zimmernummer verwechseln kann, ist uns schleierhaft, wir stehen ja mitten im Park.
Den Rest des Tages verbringen wir faulenzenderweise und geniessen die Ruhe nach den lärmigen Tagen in Pushkar.

9. November 1995

Heute erkunden wir die Stadt. Wir schlendern durch die engen Gassen und bestaunen die mit Schnitzereien verzierten Herrschaftshäuser. Jaisalmer ist einer der wenigen Orte in Indien, wo man als „Weisser“ nicht dauernd angesprochen wird. Das liegt wohl auch daran, dass es hier recht viele Touristen hat, so dass sich die Leute an bleiche Gesichter gewöhnt haben. Sonstwo werden wir manchmal regelrecht belagert, und jeder, der ein paar Worte englisch spricht, möchte sich mit uns unterhalten. Das ist ja verständlich und freut uns eigentlich auch, nur wird es mühsam, wenn man von einem Haufen Leute belagert wird und einer nach dem anderen genau dieselben Fragen stellt: „What is your name?“, „Where you come from?“, „Native place?“.
Für den Stadtrundgang haben wir Prinz im Wohnmobil gelassen, weil in Indien spazierengeführte Hunde unbekannt sind. Dafür laufen wir mit ihm später noch ausserhalb der Stadt auf einen Grabhügel hoch. Zurecht sind wir abends total erschöpft von soviel Bewegung.

10. November 1995

Albi liegt krank im Schrank! Es ist ihm übel, und er ist geschwächt. Prinz und ich bewegen uns auf leisen Pfoten um ihn herum.

11. November 1995

Zum Glück ist Albi wieder wohlauf, sonst müssten wir heute noch hier bleiben, und das würden wir wohl nicht aushalten. Im Hotel ist nämlich eine indische Geschäftsdelegation eingetroffen. Die gutgekleideten Herren erblicken uns und marschieren schnurstracks auf uns zu und fordern uns auf (anders kann man es nicht nennen), über unser Auto Auskunft zu geben. „Show me your car!“, „I want see inside!“, „How many dollars you pay?“ und immer wieder das arrogante „Show me your car!“. Die reichen Inder sind sich gewohnt, dass sie allen anderen Leuten befehlen können, schliesslich sind sie die Mächtigen. Wir fragen sie dann jeweils „Good morning, do you speak english?“, und auf ihr unwirsches „Yes, of course!“ machen wir sie darauf aufmerksam, dass es freundlich wäre, die Menschen zuerst zu begrüssen, bevor man gleich eine Wohnmobilbesichtigug verlangt. Die meisten wenden sich dann abrupt ab, ohne noch etwas zu sagen, aber bei manchen steigen wir in ihrer Achtung, und sie behandeln uns freundlich.

Wir fahren noch weiter in die Wüste hinein, bis wir zu den Sam Sanddünen kommen. Sie sind nicht mit den Dünen in der Sahara vergleichbar, aber schön ist die Landschaft dennoch. Gleich bei unserer Ankunft werden wir von vielen Jungs bestürmt, die uns alle einen Kamelritt verkaufen wollen. Wir vertrösten sie auf später, vielleicht. „If you want camel, my name Usman (oder wie sie alle heissen), don’t forget!“ Wir beruhigen sie, dass wir sie schon nicht vergessen werden, aber wir würden jetzt lieber etwas essen. Schon bald sitzen wir eng an die Mauer einer Hütte gedrückt, um im spärlichen Schatten zu sein und essen Dhal (Linsencurry) mit staubigen Chappattis (Fladenbrot), wobei der Sand zwischen den Zähnen knirscht.
Im Lauf des Nachmittages treffen weitere Kamele mit Führer ein, und wir fragen uns, wie sie mit den vereinzelten Touristen, die wir bisher gesehen haben, genug Geld verdienen können. So gegen vier Uhr jedoch, treffen die Touristen ein. Mit Bussen, Mahindra Jeeps und Ambassadors fallen ausländische wie indische Besucher über die Rajastanis her, damit sie auf dem Kamelrücken den Sonnenuntergang in den Dünen erleben können. Wir verflüchtigen uns und übernachten irgendwo in der Weite der Wüste.

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